21. Mai 2022 | 19 Uhr | St. Norbert Kirche, Friedland - Uraufführung
22. Mai 2022 | 17 Uhr | Adventskirche, Kassel (Lasallestr. 2)
Eine Kooperation mit dem Museum Friedland
Die Mitwirkenden
Chie Nagai (Sopran)
Yilian Li (Alt)
Werner Zülch (Sprecher)
Youth World Music Orchestra
Leitung: Ulli Götte
Worte des Komponisten, Dr. Ulli Götte
Flucht. 4. Sinfonie von Ulli Götte (Uraufgeführt am 21.05.22 in Friedland)
Shchedrik. Ukrainisches Volkslied. Arrangement: Mykola Leontovych
Sinfonie: Flucht
Teil 1
Flucht aus Ostdeutschland im 2. Weltkrieg (1945)
Inspiriert von: Johanna Götte (Mutter von Ulli Götte), Christa Leifert
Musikalisches Zitat: Die Posttroika (russisches Volkslied)
Plötzlich hatte ich den Pelzmantel meines Großvaters vor meinen Füßen liegen. Der war vom Wagen wohl runter gefallen und ich nahm diesen großen Pelzmantel, der mir ja viel zu lang war, und zog ihn an . Dieser Mantel hat mir mein Leben gerettet. Und das war Gottes Fügung, dass ausgerechnet ich als zehnjähriges Kind so einen Mantel bekam.
Und in dieser Nacht starb neben mir ein Junge an Diphtherie,der war so groß wie ich. Und dann fragte meine Mutter, ob ich die Kleider des Jungen kriegen könnte. Und da hat seine Mutter gesagt "Ja." Sie zog ihren toten Jungen aus und ich zog seine Kleider an und ging dann als Junge.
Ich nahm den kleinen Alfred an die Hand und habe dann mit ihm an den Häusern gebettelt. Und dann hab ich auch manchmal, oft sogar, ein Stück Brot bekommen. Die Russen hatten selber nicht viel zu Essen. Aber die waren sehr freundlich zu uns, wenn sie sahen, dass wir doch halb verhungert waren.
Ich weiß, dass mir in Friedland meine Freiheit wiedergegeben wurde. Das ich hier aufatmen konnte, dass hier wirklich für mich getan wurde was ich gebraucht habe.
„Ich weiß, dass mir in Friedland meine Freiheit wiedergegeben wurde. Dass ich hier aufatmen konnte, dass hier wirklich für mich getan wurde, was ich gebraucht habe.“
Unbeschwert wächst Christa Leifert im ostpreußischen Memel, heute Litauen auf. Der Vater ist Obersekretär am Amtsgericht. Im Juli 1944 werden Christa und ihre Mutter aufs Land evakuiert und zum Ernteeinsatz eingeteilt. Weil das Kind dabei hinderlich ist, finden beide zunächst auf dem Gehöft der Großmutter in Laugallen Zuflucht. Von dort muss die Familie im September 1944 vor den sowjetischen Streitkräften in Richtung Westen fliehen, wird aber im Januar ‘45 von der Roten Armee aufgegriffen und nach Osten verschleppt.
Nur wenige Menschen überleben den langen Fußmarsch im eisigen Winter. Geschwächte Kinder müssen im Schnee zurückgelassen werden. Doch die zehnjährige Christa hat Glück: Der warme Pelzmantel des verstorbenen Großvaters und der tägliche Löffel Honig von der Großmutter helfen ihr, Kälte und Hunger zu überstehen. Frauen und Mädchen fürchten die Übergriffe der Rotarmisten. Auch Christa Leifert entgeht nur knapp der Gewalt eines sowjetischen Soldaten. Mit abgeschnittenen Haaren und in der Kleidung eines toten Jungen gibt sie sich kurzerhand als "Christoph" aus.
Von ursprünglich 500 Gefangenen überleben nur 23 den eisigen Marsch in die Sowjetunion. Dort angekommen, stirbt auch die stark geschwächte Großmutter. Christa und ihre Mutter müssen Zwangsarbeit auf Kolchosen leisten. 1947 gelingt ihnen die Flucht zurück zum Hof der Großeltern, doch Klaipeda (deutsch: Memel) gehört inzwischen zum Gebiet der Sowjetunion. Verzweifelt versuchen Christa Leifert und ihre Mutter, per Zug nach Westdeutschland zu gelangen, wo inzwischen Christas Vater und ihre Schwester angekommen sind. Überraschend hilft ihnen schließlich ein russischer Soldat dabei, auf einen Viehwaggon zu klettern.
Nach einem Zwischenstopp im Lager Wolfen werden Mutter und Tochter weiter nach Heiligenstadt transportiert. Hier trifft Christa nach sechs Jahren erstmals auf ihren Vater, der sie kaum wiedererkennt: Die13-jährige ist durch eine Lungen- und Rippenfellentzündung so geschwächt, dass sie auf dem Fußmarsch von Heiligenstad bis zum Grenzübergang Besenhausen kaum laufen kann. Im Lager Friedland werden Christa und ihre Mutter entlaust und versorgt, bevor sie am nächsten Tag zum Vater nach Gifhorn weiterreisen. Nach fast 4 Jahren auf der Flucht ist Christas schönste Erinnerung an Friedland eine heiße Suppe und zwei Kastenbrote, die sie hier genossen hat.
Der Neuanfang in Gifhorn fällt Christa nicht leicht: Als Flüchtlingskind wird sie häufig in der Schule angefeindet, für Ausflüge und Unternehmungen fehlt das Geld. Durch großen Fleiß schafft Christa Leifert es dennoch, Versäumtes nachzuholen und ihr Leben zu meistern. Hilfe und Trost findet sie vor in allem in der Kirche, in deren Sinne sie sich bis heute für andere Menschen engagiert.
Teil 2
Flucht aus Ungarn nach dem Volksaufstand (1956)
Inspiriert von: Tibor Kesztyüs
Musikalisches Zitat: Akasztós (ungarisches Volkslied)
Für unsere Familie war diese Umwandlung in Ungarn eine Katastrophe. Wirklich krass, mein Vater hat später sogar die Stelle bei der Stadt verloren,eben weil er als Nicht-Kommunist und Nicht-Kollaborateur nicht mitarbeiten konnte oder wollte.
Am ersten Abend des Aufstandes,war es Dienstag beim Training. Und einer sagte aus Spaß "Kinder, ich gehe jetzt gleich nach Hause und hebe eine Grube aus, wir müssen uns verstecken, noch heute Abend wird geschossen." Und wir haben drüber gelacht. Das war so unwirklich. Ein schlechter Witz. Aber es ist passiert, an diesem Abend.
Wissen Sie Sprache ist ein wunderbares Instrument des Menschen. Aber wenn sie die Sprache nicht beherrschen, dann sind Sie als Mensch verloren. Und auch deklassiert.
Hier bin ich angekommen und hier begann eigentlich mein Leben. Und ich habe es nie bereut. Friedland war der Beginn.
"Wissen Sie, Sprache ist ein wunderbares Instrument des Menschen. Aber wenn sie die Sprache nicht beherrschen, dann sind Sie als Mensch verloren. Und auch deklassiert."
Tibor Kesztyüs wächst in der Kleinstadt Kispest nahe Budapest auf. Für seine westlich orientierte und demokratisch denkende Familie ist die kommunistischen Umwandlung Ungarns eine Katastrophe: Der Vater verliert seine Stelle bei der Stadt, weil er nicht mit der neuen Regierung kollaboriert. Tibor gilt als Nachwuchstalent im Fußball und spielt in der Jugendnationalmannschaft. Nach dem Studium in ungarischer und russischer Sprache, Geschichte und Literatur absolviert er 1955 sein Staatsexamen.
Den Volksaustand im Oktober 1956 erlebt Tibor Kesztyüs nur als Zuschauer. Für den Vater einer kleinen Tochter sind aktiver Widerstand und Waffengewalt keine Option. Nach dem zweiten russischen Angriff auf Budapest im November 1956 fasst Tibor den Entschluss, sein Heimatland zu verlassen. Gemeinsam mit seiner Frau und dem Baby will er sich zunächst zu Verwandten an der österreichisch-ungarischen Grenze durchschlagen, wird aber vor den scharfen russischen Kontrollen dort gewarnt. Ungarische Grenztruppen helfen der jungen Familie schließlich, über eine Pontonbrücke das sichere Ufer auf österreichischem Boden zu erreichen.
In Eisenstadt finden sie in einer früheren russischen Kaserne Zuflucht, in der bereits 400.000 andere ungarische Flüchtlinge unter chaotischen Bedingungen untergebracht sind. Die Transporte in die Bundesrepublik sind hoffnungslos ausgebucht, doch die Familie hat Glück und erhält dank des Babys noch einen Platz. Am 23. November 1956 kommen sie in Friedland an.
Noch im Grenzdurchgangslager wird Tibor Kesztyüs von Sportfunktionären für Göttingen 05 engagiert. Später spielt er auch in der Bundesliga, ist aber auf internationaler Ebene für ein Jahr gesperrt. Nach seiner Fußballkarriere arbeitet Kesztyüs ab 1963 als Sprachwissenschaftler in der Technischen Universitätsbibliothek Hannover. 1965 wechselt er an die Universität Göttingen und leitet dort ab 1969 für 30 Jahre das Fachreferat des Finnisch-ugrischen Seminars der Staats- und Universitätsbibliothek. Nebenbei promoviert er 1971 in finno-ugrischer Philologie.
Zufrieden blickt Tibor Kesztyüs im Alter auf sein Leben zurück: „Ich habe über 33 Jahre an der Uni einem Fach gearbeitet, das ja auch meine Muttersprache ist. Glücklicher geht es doch gar nicht. So konnte ich mich bewegen und den Studenten etwas beibringen.“
Er starb am 14.April 2019 in Göttingen.
Teil 3
Flucht aus Chile (1974)
Inspiriert von: Joyce Aravena
Musikalisches Zitat: Catapún chin chin Refalosa
„Der Aufbruch in Chile: Es war ein bisschen ‚Wow! Mir gehört die Welt!“ Und Friede, Freude, Eierkuchen. Ja, wir machen eine andere Art von Sozialismus!“
Ich hatte damals schon das Gefühl, das ist so was von ungerecht, was da passiert, ich hatte so eine Wut in mir,mehr Wut als Angst. Ich fand nicht, dass das der richtige Weg war. Ich mein, diese Panzer, die einfach in eine Stadt reinfahren, das ist, unglaublich, das kann man gar nicht beschreiben.
Auf dem Weg zum Flugzeug wurden wir von schwer bewaffneten Polizisten beschimpft. Aber ich hatte die ganze Zeit das Gefühl: Wir sind im Recht. Die chilenische Nationalhymne sagt: Lieber gehe ich ins Asyl bevor ich in der Repression leben muss.
Wir haben diese Nationalhymne gebrüllt.
Friedland, Friedland war der Anfang.
„Auf dem Weg zu Flugzeug wurden wir von schwer bewaffneten Polizisten beschimpft.
Ich aber hatte die ganze Zeit das Gefühl: Wir sind im Recht!
In der chilenischen Nationalhymne heißt es: ‚Lieber gehe ich ins Asyl, bevor ich in der Repression leben muss.‘ Wir haben diese Nationalhymne gebrüllt."
Behütet wächst Joyce Aravena zusammen mit ihren drei Brüdern im Süden Chiles auf, wo ihr Vater Patricio an der Universität von Temuco Volkswirtschaft lehrt. Die Anfangszeit der sozialistischen Regierung unter Salvador Allende erlebt sie als Aufbruch, bekommt aber auch politische Auseinandersetzungen im familiären Umfeld zu spüren. Ähnlich wie ihre Eltern engagiert sich Joyce schon als Schülerin für soziale Belange und setzt sich für die Alphabetisierung von Frauen ein. Mit dem Sturz der Allende-Regierung am 11.09.1973 durch den Militärputsch unter General Pinochet beginnt eine Zeit der Verunsicherung und Verfolgung. Hautnah erlebt Joyce das harte Vorgehen des Militärs gegen die Bevölkerung. Sie und ihre Familie erleiden Schikanen, werden inhaftiert und verhört. Die Familie sucht Zuflucht bei der Großmutter in Santiago, wo sie sich bis zu ihrer Flucht nach Deutschland versteckt hält. Im Verborgenen werden Vorbereitungen für die Ausreise getroffen, Pässe und Winterkleidung besorgt. Ihre Mutter entgeht der drohenden Hinrichtung nur dank ihrer deutschen Wurzeln, aufgrund derer sich das Konsulat einschaltet.
Der Vater flüchtet im November 1973 in die deutsche Botschaft. Er beantragt ihre Ausreise, die im Januar 1974 bewilligt wird. Bei der letzten Durchsuchung am Flughafen werden die wenigen Erinnerungsfotos der Familie beschlagnahmt. Joyce Aravena gelingt es jedoch, eine Namensliste von politisch Verfolgten und Inhaftierten außer Landes zu bringen. Nachdem der Mutter zunächst überraschend die Ausreise verweigert wurde, kann auch sie zehn Tage später das Land verlassen. Joyce Aravena, ihr Vater und ihre drei Brüder erreichen schließlich in der Nacht des 10. Januars 1974 das Grenzdurchgangslager Friedland. Während in Santiago hochsommerliche Temperaturen herrschen, ist es in Deutschland für chilenische Verhältnisse bitterkalt. Joyce Aravena erinnert sich daran, während ihrer Zeit im GDL Friedland dauernd gefroren zu haben.
In Friedland angekommen, beginnt die Gruppe der Schutz¬suchenden aus Chile schnell, sich zu organisieren: Es werden Küchendienste eingeteilt und Joyces Vater wird zum Sprecher der Gruppe bestimmt. Das Ankommen stellt für Joyce Aravena eine Herausforderung dar. In der Schule hat sie viel nachzuholen, insbesondere die Fremdsprachen fallen ihr schwer. Trotzdem ist Friedland für sie ein Neuanfang.
Die erste Reise nach Chile unternimmt Joyce Aravena 1992. Rückblickend auf die Jahre der Flucht und des Ankommens schätzt sie sich glücklich, stets in der Lage gewesen zu sein, sich aus beiden Ländern und Kulturen das Beste heraussuchen zu können.
Teil 4
Flucht aus Vietnam (1979)
Inspiriert von: Kim Tan Dinh
Musikalisches Zitat: Traditional Vietnamese Dance and Music Hoi An Artcraft
Es war Krieg, ein richtiger Kampf, wie bei Rambo. Und wir haben mitgemacht damals. Mit Rucksack und Gewehren sind wir aus dem Hubschrauber gesprungen. Da ist der Feind und den muss ich bekämpfen, entweder stirbt er oder ich, das war normal.
Im Umerziehungslager ist der Hunger nicht schlimm. Aber die Folter im Kopf, die Unterdrückung, die Schikane, die Erniedrigungen. Die sind ganz schlimm.
Auf dem Meer ist man seekrank. Dann isst man nicht. Und wir hatten viele Sorgen und Ängste. Da hat man keinen Hunger mehr, aber ein bisschen Wasser braucht man.
Als wir in Hannover aus dem Flugzeug ausstiegen war es bitterkalt. Und jeder von uns bekam eine Decke und dann war es ein bisschen wärmer. Und dann sind wir in dem Bus nach Friedland gefahren.
Ich habe keine Lust und ich habe keinen Mut .Ich war traurig. Ich konnte keinen Kontakt aufnehmen .Doch dann muss man die Augen öffnen. Mensch, du musst weitergehen!
Das habe ich gemacht.
„Ich hatte keine Lust und ich hatte keinen Mut. Ich war traurig, konnte keinen Kontakt aufnehmen. Doch dann muss man die Augen öffnen: Mensch, du musst weitergehen! Genau das habe ich gemacht.“
Nachdem seine Familie 1954 nach Südvietnam fliehen muss, hat Kim Tan Dinh trotz des Krieges eine glückliche Kindheit in Saigon. Dort besucht er die Militärschule und wird als Fallschirmspringer in einer Elitetruppe eingesetzt, die nur 20 Mann umfasst. Als einziger von ihnen überlebt er den Krieg und trägt nur leichte Blessuren davon. Nach Kriegsende wird er in einem Umerziehungslager inhaftiert. Auch nach der Gefangenschaft gestaltet sich sein Leben als bekennender Katholik sehr schwierig. Als das Geschäft seines Vaters enteignet wird, beschließt die Familie 1979, Vietnam zu verlassen.
Kim Tan Dinh kauft ein Boot und baut es verborgen im Urwald um. Wie rund anderthalb Millionen seiner Landsleute fliehen er und seine Familie über das Meer. Die „Boatpeople“ werden weltweit bekannt. Vier Tage und vier Nächte sind im Mai 1980 ca. 70 Personen auf dem selbstgebauten Boot unterwegs. Jeder bekommt nur einen Esslöffel Wasser pro Tag. Durch ein Lichtsignal per Spiegel macht Kim Tan Dinh ein amerikanisches Flugzeug auf die Gruppe aufmerksam. Das Hilfsschiff „Cap Anamur“ wird informiert und kann alle Passagiere retten, die zu diesem Zeitpunkt mehr tot als lebendig sind.
Die Flüchtlinge werden zunächst in ein Durchgangslager nach Singapur gebracht, von dort auf die Insel Galang in Indonesien. Erst nach drei Monaten werden sie durch das humanitäre Aufnahmeprogramm des UNHCR nach Hannover ausgeflogen. Anfangs befürchtet die Familie, dass im geteilten Deutschland – ähnlich wie im Vietnam – Unterdrückung durch Kommunisten herrscht. Diese Angst erweist sich jedoch als unbegründet.
Zwei Monate verbringt die Familie im Grenzdurchgangslager Friedland, ihrer ersten Unterkunft. Ohne Geld und Deutschkenntnisse ist die Anfangszeit für Kim Tan Dinh sehr schwierig. Die ganze Familie hat starkes Heimweh. Alles, besonders aber das Essen, ist ihnen fremd. Über verschiedene Stationen gelangen Kim und seine Familie nach Oldenburg. Er wird bei der Telekom als Fernmeldetechniker ausgebildet und arbeitet dort 23 Jahre lang. Für zehn Jahre übernimmt er den Vorsitz der Vereinigung vietnamesischer Katholiken in Deutschland.
Auch wenn Kim Tan Dinh Deutschland heute als seine zweite Heimat betrachtet, hat er noch immer Heimweh nach Vietnam. Wegen seines kirchlichen Engagements wurde ihm die Einreise aber verboten. Dabei wäre es sein größter Wunsch, noch einmal seine 97-jährige Mutter in der Heimat zu besuchen.
Teil 5
Flucht aus Syrien (2014)
Inspiriert von: Obada Jalbout
Musikalisches Zitat: Lamma ba‘da yatathanna (Salim al-Masri, 19. Jh.)
Ich habe in jungen Jahren sehr viel geschafft. Das ist dann über Nacht alles weg gewesen. Durch den Krieg. Nie hätte ich damit gerechnet,dass ich jemals mein Heimatland verlassen würde. Allein diesen Schock zu verarbeiten, das ist wirklich schwer.
Bevor ich Syrien verlassen habe, hat man mir erzählt, dass der Weg nach Europa sehr sehr gefährlich ist. Aber das hat mich nicht abgeschreckt, denn in Syrien zu bleiben, erschien mir noch viel gefährlicher.
Mein Wunsch ist es die deutsche Sprache zu lernen, hoffentlich eines Tages einwandfrei Deutsch zu sprechen. Dann möchte ich studieren, Informatik, um wieder in meinem Bereich arbeiten zu können. In einem Land, das mich so respektiert hat, wie ich bin.
„Bevor ich Syrien verlassen habe, erzählte man mir, dass der Weg nach Europa sehr gefährlich ist. Aber das hat mich nicht abgeschreckt, denn in Syrien zu bleiben, erschien mir noch viel gefährlicher.“
Obada Jalbout führt in Damaskus ein erfolgreiches Leben: Er betreibt einen Computer Center und studiert parallel noch Informatik. Die Geschäfte laufen gut, er kann sich ein großes Haus leisten und hat die Möglichkeit zu heiraten. Doch dann kommt der Krieg und über Nacht ist alles verloren.
2013 beschließt Obada Jalbout, die gefährliche Flucht übers Mittelmeer zu wagen. Er weiß, dass er den Schleusern nicht trauen kann und lässt sich daher beim Schneider eine versteckte Tasche in seine Unterhose nähen, damit ihm das Geld für den Fluchtweg nicht gestohlen wird. Der Plan geht auf und Obada erreicht nass, aber sicher das europäische Ufer. Nach drei Monaten in Friedland, seiner ersten Station in Deutschland, kann er in eine Sammelunterkunft im Landkreis Göttingen ziehen. Erst acht Monate später erhält er endlich den Bescheid, dass sein Antrag auf Asyl anerkannt worden ist.
Mittlerweile ist Obada Vater eines kleinen Sohnes, der in Göttingen geboren ist. Im Frühjahr 2022 hat er mit seiner Familie die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Das bedeutet ihm viel, denn Obada Jalbout ist Palästinenser und obwohl er in Syrien geboren und aufgewachsen ist, hat er keinen syrischen Pass.
Im Jahr 1948, nach dem Ausbruch des Palästinakrieges zwischen mehreren arabischen Staaten und den israelischen Milizen, mussten seine Großeltern aus Palästina nach Syrien flüchten. Weltweit gibt es heute über 5,6 Millionen palästinensische Flüchtlinge wie Obada. Nach Palästina dürfen sie nicht mehr zurückkehren, haben aber auch keinen Pass von den Aufnahmeländern erhalten. Sie sind staatenlos. „Ich wollte nicht, dass mein Sohn wie ich die Erfahrung machen muss, ohne Papiere zu leben“, betont Obada Jalbout. „Man hat weniger Rechte und Freiheiten, kann zum Beispiel keine Dienst- oder Urlaubsreisen ins Ausland machen.“
Mittlerweile arbeitet er als IT-Koordinator am Institut für Medizinische Informatik der Universitätsmedizin Göttingen. Und Obada Jalbout kann heute vieles zurückgeben:
Durch seine Initiative spendet die Universitätsmedizin Göttingen (UMG) seit 2020 gebrauchte, aber funktionsfähige PCs an das Migrationszentrum Göttingen. Hier werden sie an geflüchtete Familien mit Schulkindern sowie an Teilnehmer*innen von Online-Sprachkursen weitergegeben. Die zeitaufwendige technische Aufbereitung der PCs erledigt Obada selbst – ehrenamtlich und außerhalb seiner Arbeitszeit. Er ist sehr dankbar dafür, persönlich etwas zurückgeben zu können. Aber auch das Engagement seines Arbeitgebers für andere Geflüchtete bedeutet ihm viel.
Die Komposition
Flucht für Sopran, Alt und Orchester ist die vierte Sinfonie Ulli Göttes. Die Komposition folgt der Form eines Rondos: der Refrain ist der Flucht-Thematik im Allgemeinen gewidmet, die Couplets handeln von Einzelschicksalen Geflüchteter, die im Grenzdurchgangslager Friedland nach ihrer Flucht aufgenommen worden waren. Die Einzelschicksale sind derart gewählt, dass wesentliche historische Fluchtbewegungen erfasst werden: die Rückkehr deutscher Soldaten, die in Russland im Zuge des 2. Weltkriegs gefangen waren und im Zeitraum 1948 bis 1955 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurden und die Vertreibung der Menschen aus den ehemalig deutschen Gebieten in Ostpreußen, die Flucht jener Menschen, die aus Ungarn im Folge des dortigen Aufstands im Jahr 1956 flohen, die Flucht chilenischer Bürger in der Folge der Pinochet-Herrschaft 1974, die Flucht der so genannten 'Boat-People' aus Vietnam im Jahr 1978/79 sowie die Fluchtbewegungen der 2010er Jahre, infolge derer vor allem Syrer und Afghanen nach Deutschland kamen.
Die Texte stammen überwiegend aus Interviews mit den Geflüchteten, die im Zeitzeugenportal der Stiftung Haus der Geschichte der BRD veröffentlicht sind.
Chie Nagai
Die in Kassel lebende japanische Sopranistin Chie Nagai arbeitet vorwiegend im Bereich der zeitgenössischer Musik. Sie studierte Gesang und Elementare Musikpädagogik in Tokio und Kassel und hat
seitdem zahlreiche Werke von Komponisten wie Johnny Chang, Alois Bröder und Lutz-Werner Hesse uraufgeführt.
Darüber hinaus hat sie mit Komponisten und Improvisatoren wie Christian Wolff, Tomomi Adachi, Liping Ting, Eddie Prévost, Rieko Okuda und Albert Kaul konzertiert. Zusammen mit Joshua Weitzel war
sie Co-Kuratorin der Konzertreihe Chamäleon Verbindungen 2020 in Kassel.
Yilian Li
Yilian Li ist in China gebohren und erhielt dort ihre erste musikalische Ausbildung. Zum Msuikstudium kam sie nach Deutschland und studiert nun an der Musikakademie "Louis Spohr" in Kassel Gesang im Fach Mettosopran.
Werner Zülch
Grafik-Designer / Typograf / Theatermacher / Schauspieler / Konzeptentwickler / Kunst- u. Theaterlehrer
Werner Zülch lebt in Kassel. Er absolvierte eine Schriftsetzerlehre, ein Studium in Grafik-Design, sowie Kunst im Lehramt.
Seit 1980 arbeitet er künstlerische und konzeptionelle im AktionsTheaterKassel. Ein Freies Theater, das sich in der Schnittstelle zwischen Darstellender und Bildender Kunst bewegt. Er hat
gemeinsam mit Helga Zülch die Künstlerische Leitung. Für die Theaterarbeit wurde das AktionsTheaterKassel mehrfach ausgezeichnet (Kulturförderpreis, Preis der Dierichs-Stiftung, Theaterpreis
Lugano für „Rotschilds Geige“) und wird auf Festivals im In- und Ausland eingeladen.
Zülch ist als Schauspieler, Regisseur und Co-Regisseur und als Realisator für Bühne, Raum, Objekte an zahlreichen Produktionen des AktionsTheatersKassel beteiligt.
Ulli Götte
Freier Komponist, Musiker und Musikwissenschaftler in Kassel. Primäre künstlerische Arbeitsfelder: Neue Musik, außereuropäische Musik und Jazz. Schwerpunkte sind die Minimal Music sowie die javanische Gamelan-Musik. Er gründete 1997 die Reihe Internationales Minimal Music Festival. Götte ist auch Künstlerischer Leiter des Gamelan-Festivals in Kassel seit 2013.
Götte ist Gründer und Leiter des Ensembles in process, des Youth World Music Orchestra, der Kasseler Gamelan-Formation Manyar Sewu sowie als Solist konzertant tätig.
Seit Februar 2017 freier Mitarbeiter des Education-Programms der Elbphilharmonie Hamburg.
Zahlreiche Kammermusik- und Orchesterwerke, Solo-Stücke, mehrere multimediale Projekte, Kompositionen für Gamelan, Klanginstallationen u.v.m.
Konzerte sowie künstlerische und pädagogische Projekte im In- und Ausland.
Das Youth World Musci Orchestra
Das im Jahr 2016 gegründete Youth World Music Orchestra ist ein besonderes Projekt der vermittelnden und zugleich künstlerischen Arbeit. Es ist ein Ensemble, das sich mit der Musik aus den Kulturen der Welt auseinandersetzt.
Das Youth World Music Orchestra ist ein fester Bestandteil des Zentrums für Interkulturelle Musik. Die Mitglieder dieses Ensembles sind junge und bereits gut ausgebildete Musiker:innen zwischen 15 und 25 Jahren. Das Repertoire umfasst bislang Musik aus Afrika, Indonesien, Indien, der Türkei, Frankreich, Schweden, Russland, Werke der europäischen Klassik, Stücke aus den Bereichen Rock/Pop/Jazz, neue Musik u.v.m.
Das Youth World Music Orchestra sind: Lasse Becker, Yiming Deng, Tamina Fohrmann, Arthur Freye, Jiawen Guo, Jiaxi Huo, Yuhze Jiang, Ekin Kizilirmak, Frieder Krauss, Milena Lenger, Laura Ng, Imke Ortmann, Nauradhia S. Permahati, Jannis Riß, Lisa Schaumburg, Karlotta Seybold, Jannis Strasser, Franz Wagner, Ilka Wienhues, Sebastian Winger
Die Kooperation
Die Uraufführung von Flucht, die am Vorabend des Kasseler Konzertes in der St. Norbert-Kirche Friedland stattfindet, ist das zweite Projekt einer dreiteiligen Kooperation des Zentrums für Interkulturelle Musik mit dem Museum Friedland. Dieses Museum, das die Geschichte des Grenzdurchgangslagers Friedland dokumentiert, das aber darüber hinaus Flucht als ein menschheitsgeschichtliches Grundphänomen thematisiert, wurde im Jahr 2016 gegründet.
https://www.museum-friedland.de
Die Förderer
Ein herzlicher Dank geht an unsere Förderer: Die Stadt Kassel und die Gerhard-Fieseler-Stiftung. Ein weiterer Dank geht an unseren Kooperationspartner, das Museum Friedland, im Besonderen an Angela Steinhardt, sowie an die Gemeinden der St. Norbert Kirche und der Adventskirche für die vielfäfltige Unterstützung.